Wohin das Wasser fließt
Mit aufwändigen Rechenmodellen und moderner Radartechnik ergründen Forscher die Strömungen des Meeres. Ihnen gelingen immer präzisere Voraussagen – wovon Rettungskräfte und Wissenschaftler gleichermaßen profitieren.

Jochen Horstmann entlässt einen Drifter vom Forschungsschiff in's Meer. Foto: Hereon/Christian Schmid
Ein verloren gegangener Container, der droht, in die stark frequentierte Fahrrinne zu geraten. Ein Ölteppich, der womöglich ins geschützte Wattenmeer drängt. Ein Surfer, der manövrierunfähig aufs offene Meer hinausschlingert – bei Notfällen wie diesen wollen Rettungskräfte wissen, wohin Tide, Wind und Seegang das Meer treiben. Welche Schiffe zum Beispiel müssen sie vor dem herrenlosen Container warnen? Wie viele Küstenorte sollten sich für eine drohende Ölpest wappnen? Und wohin genau muss der Rettungshubschrauber fliegen, um den Surfer zu retten?
Lange Zeit konnten Wissenschaftler solche Fragen nur ungenau beantworten: Über die Strömungen in Meeren, die so genannte Drift, war wenig bekannt. Vorhersagen waren entsprechend fehlerhaft.
Dabei versuchen Forscher bereits seit Jahrhunderten, die Bewegungsmuster auf See zu ergründen – mitunter mit überraschenden Methoden. So warfen zum Beispiel vor etwa 150 Jahren die Experten der Deutschen Seewarte in Hamburg Hunderte von Flaschen ins Meer. Auf den Meldezetteln darin wurden die Entdecker einer solchen Flaschenpost gebeten, die Seewarte über den Fundort zu informieren: So sollten sich Driftwege offenbaren. Ein erster Ansatz zur wissenschaftlichen Erforschung – wenn auch ein sehr ungenauer. Und ein langwieriger dazu: Eine der Flaschen aus Hamburg erreichte die Küste Australiens erst im Frühjahr 2018. Nach 132 Jahren auf See.
Heute beherbergt die Seewarte in Hamburg die größte Flaschenpost-Sammlung der Welt. Die Methoden allerdings haben sich seit diesen Anfängen stark verfeinert: Immer präziser können Forscher mittlerweile vorhersagen, wohin das Meer Personen, Partikel oder Gegenstände treiben wird. Auch Rückwärtsrechnungen sind inzwischen möglich: Woher kommen die Algen, die plötzlich vor der Küste treiben, von welchem Schiff könnte das Paket Kokain stammen, das dort angeschwemmt wurde und wer hat vor einigen Stunden illegal Paraffin ins Meer geleitet, das jetzt auf Land zutreibt? Auch auf derartige, in die Vergangenheit zielende Fragen finden Wissenschaftler und Behörden heute so präzise Antworten wie nie zuvor.
Zwei Hauptantreiber der Drift sind identifiziert: Zum einen sorgt die festgelegte Abfolge von Ebbe und Flut für die Strömung auf See, zum andern aber treibt das beständig wechselnde Wetter das Oberflächenwasser an. Dazu kommen lokale Faktoren wie Flussmündungen oder Landbarrieren, etwa Inseln.
Stark zergliederte Regionen wie die Deutsche Bucht mit all ihren Inseln und Zuflüssen sind für Meereswissenschaftler deshalb ein besonders interessantes Forschungsgebiet: Allein für die Drift-Analyse der deutschen Nordsee hat sich ein ganzes Netzwerk von Experten zusammengeschlossen, darunter auch Forscher des Helmholtz-Zentrums Hereon. Am Institut für Küstenforschung messen Ozeanographen dort zum Beispiel, wie sich Wind und Seegang auf die Drift auswirken, Mathematiker rekonstruieren in Simulationen das Wetter der vergangene 60 Jahre, um typische Strömungsmuster zu erkennen, Biologen beobachten, wohin Plankton und andere Meeresbewohner im Lauf der Jahreszeiten treiben und Messtechniker setzen kleine Sendestationen aus – Drifter genannt – die vom Wasser der Nordsee mitgezogen werden und dabei regelmäßig Angaben über ihren Standort an Land funken.
Messungen mit Driftern und dem Marine Radar

Drifter zeichnen Strömungungsphänomene auf. Foto: Hereon/Christian Schmid
„Drifter zeichnen für uns immer wieder interessante Stömungsphänomene auf“, erklärt Jochen Horstmann, Leiter der Abteilung Radarhydrographie am Hereon. „Ihre Daten erlauben aber in der Regel kaum Rückschlüsse auf Strömungsstrukturen im großem Maßstab.“ Dafür sorgen stattdessen die Radaranlagen des Instituts: Auf den Inseln Sylt und Wangerooge sowie an der Küste von Büsum stehen Hochfrequenz¬radargeräte mit einer Reichweite von etwa 100 Kilometern. Die drei Meter hohen Antennen empfangen kontinuierlich Daten. Aus diesen werden alle 20 Minuten die Oberflächenströmungen in der Deutschen Bucht berechnet. Diese mit bis zu zwei Kilometern aufgelösten Strömungen gelten auch als wichtiges Korrektiv für die rein mathematischen Rechenmodelle, mit denen Forscher ebenfalls arbeiten.

Dr. Jochen Horstmann ist seit 2013 Leiter der Abteilung Radarhydrographie im Institut für Küstenforschung am Hereon.
Einen noch engeren Fokus setzt das Marine Radar: An Bord von Schiffen registriert es die Meeresströmungen in einem Umkreis von drei Kilometern und überträgt sie auf Wunsch nur leicht zeitversetzt auf den Bildschirm. Alle zwei Sekunden empfängt es ein neues Bild der Oberfläche mit einer Auflösung von 7,50 Meter. Dadurch werden die unterschiedlich langen Wellen sichtbar: Pulsierend huschen ihre Kämme über den Monitor und Oberflächenfilme zeichnen sich als dunkle Schatten ab.
Benötigt Horstmann noch Daten mit einer deutlich höheren räumlichen Auflösung, schickt er eine Drohne in die Luft – sinnvoll ist das zum Beispiel an Flussmündungen oder in Hafengebieten. Denn dort zeigt sich die Strömung besonders variabel. „An den Küsten bewegt sich das Meerwasser oft mit Geschwindigkeiten von einem oder mehreren Metern pro Sekunde voran und ändert auch seine Strömungsrichtung recht plötzlich“, so der Ozeanograph. Auf dem offenen Meer dagegen ist es in der Regel deutlich träger: Dort fließt es meistens mit Geschwindigkeiten deutlich unter einem Meter pro Sekunde.
Die Drift und Fischbestände

Dr. Ute Daewel ist seit 2016 Wissenschaftlerin in der Abteilung "Stofftransport und Ökosystemdynamik" im Institut für Küstenforschung. Foto: Hereon/Jan-Rasmus Lippels
Dieses Mosaik aus ruhigen und extrem bewegten Zonen müssen Forscher kennen, wollen sie lokale Phänomene richtig deuten. Ute Daewel etwa, Meereswissenschaftlerin am Institut für Küstenforschung, interessiert, wie sich die Drift auf die Bestände von Fischen auswirkt: Nach dem Laichen trägt die Strömung die Fischeier mit sich – im ungünstigen Falle in Meeresregionen, in denen besonders viele Fressfeinde, ein geringes Nahrungsangebot oder ungünstige Umweltbedingungen herrschen. „Das kann dazu führen, dass die Bestände einer Art plötzlich stark einbrechen“, so Daewel.

Einige Fischarten sind darauf angewiesen, dass die Strömung ihre Eier nach dem Laichen in andere Regionen treibt, wo die jungen Fische aufwachsen können. Foto: iStock/yannp
Nimmt in einer Region der Bestand einer sonst typischen Fischart unvermittelt ab, müssen Experten also nicht nur prüfen, ob Umweltprobleme oder Fischerei der Grund sein könnten. Auch die Strömung kann Tieren saisonal stark zusetzen – man denke nur an die „Krabbenkrise“ im vergangenen Jahr. Damals hatten sich die Tiere vor der deutschen Küste so rar gemacht, dass Krabbenbrötchen in manchen Badeorten nur zum Rekordpreis von 11,50 Euro zu bekommen waren. Forscher wie Daewel vermuten, dass damals ungünstige Strömungsverhältnisse für den Rückgang verantwortlich gewesen sein könnten. Mit dem Klimawandel kommen die Tiere nämlich vergleichsweise gut zurecht.
Für ihre Studien arbeitet die Expertin mit Rechenmodellen, die es ihr erlauben, genau zu verfolgen, wohin Eier und Larven treiben und wie sie sich dabei – je nach Wassertemperatur und Nahrungsangebot – entwickeln. Heringe zum Beispiel laichen typischerweise vor der Ostküste Englands. Von dort treibt die Strömung ihre Eier meist gen Südosten, in die nährstoffreichen Zonen vor der deutschen Küste. Heringe laichen allerdings im Winter, die dann herrschende Kälte lässt Eier ohnehin schon langsamer reifen. Sacken die Temperaturen dann noch auf Extremwerte ab, besteht die Gefahr, dass die Larven erst dann schlüpfen, wenn die Eier die nährstoffreichen Gebiete mit der Drift längst passiert haben – schließlich wälzt sich die Nordsee in der Deutschen Bucht beständig gegen den Uhrzeigersinn voran.
Einsatz von Dispergatoren bei Ölunfällen

Dr. Ulrich Callies leitet die Abteilung "Modellierung zur Bewertung von Küstensystemen" im Institut für Küstenforschung. Seit 1988 ist er am Forschungszentrum in Geesthacht. Foto: Hereon/Christian Schmid
Wichtige Argumente liefern Driftforscher auch in Umweltfragen. So ist in Deutschland der Einsatz sogenannter Dispergatoren umstritten: Wird diese Chemikalie auf einen treibenden Ölfilm gesprüht, löst dieser sich in viele sehr kleine Tröpfchen auf, die sich mit dem Meerwasser vermischen und absinken. Der giftige Teppich verschwindet von der Wasseroberfläche, bevor er das Land erreicht und die dortigen Ökosysteme gefährden kann. Stattdessen verbreiten sich die Ölpartikel aber im Wasser, dringen vor bis zum Meeresboden und sickern dort möglicherweise ins Sediment ein – wo sie wiederum die dort lebenden Organismen schädigen können. „Verschiedene Risiken an Land und auf See müssen gegeneinander abgewogen werden, bevor man über den Einsatz von Dispergatoren entscheidet“, erklärt Ulrich Callies, Leiter der Abteilung „Modellierung zur Bewertung von Küstensystemen“.
Seit vielen Jahren verfeinert er am Hereon die Rechenmodelle für Driftphänomene und interessiert sich dabei insbesondere für das Verhalten von Öl auf dem Meer – gerade auch in Bezug auf mögliche Ölunfälle. „Jede Ölsorte reagiert anders bei Kontakt mit Luft und Salzwasser – die eine verdunstet rasch, andere Sorten verklumpen schnell. Auch die Effektivität eines aufgebrachten Dispergators hängt stark von der vorliegenden Ölsorte ab“, so Callies.
Umso schwieriger sind Vorhersagen, ob der Einsatz von Dispergatoren wirklich sinnvoll ist, um eine Ölpest an Land oder im empfindlichen Wattenmeer zu verhindern. In Computersimulationen ließen Callies und seine Kollegen deshalb immer wieder Öl in die Nordsee austreten – millionenfach, bei unterschiedlichstem Wetter, an immer neuen Orten. Dabei zeigte sich: Schlägt ein Tanker direkt vor der Küste leck, helfen auch Dispergatoren nicht mehr gegen eine extreme Verschmutzung – allein die Tidebewegung würde das Öl schnell ins Wattenmeer drücken. Draußen auf hoher See wiederum reichen wegen der langen Zeit, die zur Verfügung steht, meist herkömmliche Methoden zur Ölbekämpfung aus, sodass dort eine zusätzliche Belastung des Meeres mit den Chemikalien unnötig ist. Interessant wäre ihr Einsatz aber in einem vordefinierten Korridor vor der Küste: Tritt Öl in einem Abstand von 20 bis 40 Kilometern zum Land aus, verhindern die chemischen Hilfsmittel effektiv, dass der Ölteppich auf das Wattenmeer driftet. Zusätzlich spricht für das Sprühen in diesen Zonen, dass die Wassertiefe dort bereits Werte um 20 Meter erreicht – die Wassersäule ist damit groß genug, dass Dispergatoren und Ölpartikel zumindest stark verdünnt werden. „In diesem begrenzten Areal könnte der Einsatz also sinnvoll sein, um Schlimmeres zu verhindern“, so Callies.
Video: Öldrift in der Nordsee
Hier ist zu sehen, wie sich das Öl mit (blau) und ohne (braun) Anwendung eines chemischen Dispergators im Falle eines hypothetischen Unfalls am 15. März 2008 verteilt hätte. Der angenommene Unfallort ist durch das Symbol eines Wracks markiert. Es wird deutlich, dass sich das Öl bei Einsatz eines (100 Prozent wirksamen) Dispergators drei Tage nach dem Unfall immer noch auf offener See befunden hätte. Ohne diese Maßnahme wäre das Öl hingegen vom Wind in Richtung Wattenmeer getrieben worden.
Quelle: Dateninhalte und Design: Hereon/ Hintergrundkarte: Esri, ArcGIS Online
Zusammenarbeit mit dem BSH

Dr. Silvia Maßmann promovierte am Alfred-Wegener-Institut im Fachbereich Klimawissenschaften und führte selbst ozeanographische Messungen im Südpolarmeer durch. In ihrer Doktorarbeit programmierte sie Modelle zur Simulation von Gezeiten in der Nordsee. Seit 2010 ist sie am Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie im Sachgebiet Operationelle Modelle für Entwicklung, Validation und Betrieb von Vorhersagemodellen zuständig und erstellt Drift- und Wasserstandsvorhersagen. Foto: BSH
Regelmäßig stimmt sich der Experte mit den Behörden ab, die im Notfall für die Ölbekämpfung auf See zuständig sind. Etwa mit dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH): Der dortige Vorhersagedienst hat die Nordseeströmung Tag und Nacht im Auge – auch mithilfe der Daten des Hereon. Mit wenigen Mausklicks können die Mitarbeiter dort die BSH-Modelldaten verwenden, um Driftvorhersagen für die kommenden 48 Stunden zu fertigen. Umweltsündern kommen sie nachträglich auf die Spur, indem sie berechnen, welchen Weg Partikel dank der Strömung zuletzt genommen haben.
„Etwa 50 Mal pro Jahr beantwortet unser Team derartige Anfragen von Polizei und Rettungskräften“, erklärt Silvia Maßmann, die am BSH das Driftmodell betreut. „Dringende Anliegen bearbeitet die Rufbereitschaft des Wasserstandsvorhersagedienstes auch mitten in der Nacht, auf andere reagieren wir möglichst innerhalb von 24 Stunden.“ Bei ihr und ihren Kollegen landen all die Anfragen zum Beispiel nach Seegangsbojen, die sich im Sturm losgerissen haben, oder vermissten Personen, deren letzte Spur zur See führt. Einmal auch nach einer in Küstennähe treibenden Seemine – „mein ungewöhnlichster Fall“, gesteht Maßmann. Ein Fischer hatte den Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg an Bord gezogen, vor Schreck wieder ins Wasser gleiten lassen und sofort die Wasserschutzpolizei alarmiert. Die bat Maßmann um Hilfe. „Glücklicherweise stimmte unsere Vorhersage diesmal besonders exakt mit dem tatsächlichen Verlauf überein, sodass Helfer die Bombe schnell einfangen konnten.“
Für ihre Berechnungen gibt Maßmann dazu am Computer verschiedene Parameter ein: Wo genau zum Beispiel ist ein Schiff leck geschlagen, wie viel der Ladung ist bereits ausgelaufen, welche Art von Öl hatte es gebunkert? Je detailreicher die Ausgangsdaten sind, desto exakter sind die Vorhersagen, die Maßmann dem Havariekommando liefern kann.
Ihr Bildschirm zeigt dann, wie sich zum Beispiel vor Amrum ein Haufen schwarzer Pünktchen in Bewegung setzt, jeder Farbklecks symbolisiert eine ausgetretene Ölmenge. Erst treibt die Wolke südostwärts, auf die Insel zu. Doch dann dreht der Wind plötzlich, die Ebbe setzt ein – und der Ölfleck wird hinaus aufs Meer gezogen. In dieser Simulation wären Amrums Küsten und ihre empfindlichen Ökosysteme von einer Umweltkatastrophe verschont geblieben.
Und dank Maßmanns Vorhersagen hätten sich auch die Einsatzkräfte des Havariekommandos richtig positioniert: Ihre Ölabwehrschiffe hätten sie auf die Nordsee geschickt und ihre Ölsperren vor der Küste aufgebaut.
Autorin: Jenny Niederstadt
Erschienen in der in2science #7 (Dezember 2018)