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Stärker, zäher, härter: Wie Wissenschaftler das Verhalten von Werkstoffen enträtseln

Schrrmp – mit einem satten schmatzähnlichen Geräusch schließen sich die schweren Türen. Der kleine, mit Instrumenten vollgestellte Experimentierraum kann ab sofort nicht mehr betreten werden. Eine Wand aus Beton und Blei schützt die Außenwelt vor der Röntgenstrahlung in der Nanofocus Endstation des Helmholtz-Zentrums Hereon (Hereon) an der Beamline P03 am Deutschen Elektronen Synchrotron DESY in Hamburg.

Physikerin Dr. Christina Krywka und Physiker Prof. Jozef Keckes an der Beamline

An der Beamline wurden zwei aufeinander aufbauende Hexapod-Positionierer
eingesetzt. Dabei bewegen je sechs Antriebselemente die Plattform mit der
Probe in den Strahl. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Während drinnen der abgelenkte Röntgenstrahl eine Probe durchleuchtet, beobachten nebenan Physikerin Dr. Christina Krywka und Physiker Prof. Jozef Keckes gespannt die Monitore. Jetzt können die Leiterin der Abteilung „Röntgenbildgebung mit Synchrotronstrahlung“ des Hereon und der Gruppenleiter der Abteilung Materialphysik der Montanuniversität Leoben (Österreich) nur noch hoffen, dass die Probe alle Vorbereitungen heil überstanden hat. Etwas zu verändern würde jetzt sehr viel wertvolle Strahlzeit an der Beamline kosten. Da! Es zeigen sich die charakteristischen Kreise des Diffraktionsexperiments. Erleichtert schauen sich die Beiden an: Die Probe ist intakt, diese Daten können benutzt und ausgewertet werden. Jetzt können sie ihre werkstoffwissenschaftlichen Fragestellungen systematisch angehen.

Physikerin Dr. Christina Krywka und Physiker Prof. Jozef Keckes an der Beamline

"Wir untersuchen mit einem Nanoindenter die mechanischen Eigenschaften der Schichten." - Keckes. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Die Wissenschaftler untersuchen für Industriepartner, zum Beispiel Motorenhersteller oder Turbinenbauer, spezielle Werkzeuge. Diese sind extrem hart und werden genutzt, um einzelne Komponenten aus einem Rohmaterial herauszufräsen oder zu schneiden. Als Rohmaterial für die Werkzeuge wird häufig Hartmetall eingesetzt, das hauptsächlich aus Wolframkarbid besteht. Kaum ein Material ist noch härter. Trotzdem nutzen sich diese Werkzeuge irgendwann ab, es kann nur eine begrenzte Anzahl Bauteile damit hergestellt werden. Um ihre Lebensdauer zu verlängern, werden sie mit Spezialbeschichtungen versehen. Die hauchdünnen Schichten sind wenige Mikrometer dünn und bestehen zum Beispiel aus Titannitrit.

Die Arbeitsgruppe von Jozef Keckes untersucht und entwickelt solche Schichten. Warum werden die harten Schichten auf den Werkzeugen nicht einfach doppelt oder dreifach so dick aufgetragen? Dazu Jozef Keckes: „Aufgrund der darin gezielt eingebrachten Eigenspannung können die Schichten nicht dicker werden, sie würden abplatzen. Außerdem wachsen die Schichten auf dem Substrat durch einen Sputtern genannten Prozess. Dabei werden im Plasma die Schichten Atom für Atom aufgebaut. Das kann Stunden oder manchmal Tage dauern.“

Die Nanofocus Endstation an der Beamline P03

Die Positionierer drücken die Probe mit definierter Kraft in die Spitze des Indenters.

Die Positionierer drücken die Probe mit definierter Kraft in die Spitze des Indenters. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Seit 2011 kommt Materialforscher Jozef Keckes mit seiner Gruppe regelmäßig nach Hamburg, um an der Nanofocus Endstation seine Untersuchungen an den Beschichtungen durchzuführen. Dabei häufig an seiner Seite: Christina Krywka, die seitens Hereon diese Einrichtung an der Beamline P03 betreut und eingerichtet hat. Jozef Keckes: „Wir untersuchen mit einem Nanoindenter die mechanischen Eigenschaften der Schichten. Unsere Frage war, wie das Material auf der mikroskopischen Skala auf äußere Einflüsse reagiert, wie etwa auf hohen Druck.“

Ein Indenter ist eine extrem scharfe, kleinste Diamantspitze, die mit einer definierten Kraft eine winzige Kerbe in die Schicht der Probe drückt. So wird zum Beispiel mit einer Kraft von 10 Millinewton eingedrückt, das entspricht einem Gewicht von 1 Gramm.

Verformungen in Echtzeit beobachten

Die Positionierer drücken die Probe mit definierter Kraft in die Spitze des Indenters. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Foto: Hereon/ R. Otzipka

Die Idee von Christina Krywka und Hereon-Institutsleiter Prof. Dr. Martin Müller war es, eine Anlage zu bauen, die es ermöglichen würde, den Prozess der Verformung in Echtzeit zu beobachten – und damit einen lang gehegten Wunsch von Jozef Keckes zu erfüllen.

Während der Indenter in die Schicht eindringt, sollen Streubilder an der Beamline entstehen.
Der große Vorteil solcher in situ (in Echtzeit) Experimente ist es, dass dabei auch die elastischen Verformungen beobachtet werden können, die nur während des Drückens entstehen. Diese wären später, wenn die Spitze wieder entfernt ist, nicht mehr sichtbar. Denn ex situ – nach der Einkerbung – ist nur noch die bleibende plastische Verformung im Material zu erkennen.

Physikerin Dr. Christina Krywka und Physiker Prof. Jozef Keckes im Gespräch

Während der Messungen und später im Büro bleibt Zeit, um die kommenden Experimente zu besprechen. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Gemessen wird zudem mit verschiedenen, sich verändernden Kräften in zahlreichen Proben. So lässt sich die unmittelbare elastische Reaktion des Materials, die Eigenspannung, als Funktion der Kraft und als Funktion der Eindringtiefe sowie als Funktion der Umgebung darstellen.

„Wir wollten verstehen, wie das Material auf dieser kleinen Längenskala mit einer äußeren Kraft umgeht. Bis wir unser Experiment entwickelt hatten, konnten Spannungsfelder nicht in situ aufgenommen werden. Hier mussten Modellierer Annahmen treffen und das Modellverständnis musste extrem exakt sein. Kleinste Fehler in den Annahmen machen große Abweichungen zwischen dem rechnerischen Modell und dem realen Material aus“, erklärt Jozef Keckes.

Die Herausforderung für die Echtzeit-Messung bestand darin, die Geometrie des Gerätes so zu bauen, dass es mit der Geometrie des Röntgenstrahls und des Aufbaus an der Beamline kompatibel ist. Dazu wurden zwei aufeinander aufbauende Hexapod-Positionierer benutzt. Diese Präzisionsgeräte richten Proben in allen vertikalen und horizontalen Richtungen aus. Auch mussten der Rahmen um den Indenter sowie die Hexapod-Positionierer so ausgelegt werden, dass sie sich bei den relativ hohen Kräften nicht verformen. Denn dadurch würden sich die Messungen verfälschen.

Die Lösung: Ein Hexapod

Physikerin Dr. Christina Krywka und Physiker Prof. Jozef Keckes im Gespräch

Die Messungen werden unter anderem auch mit Bildern, die am Elektronenmikroskop gemacht wurden, verglichen. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Die Lösung: Ein Hexapod bewegt die Probe mit definierter Kraft von unten in den festinstallierten Indenter, dessen Diamantspitze steht bewegungslos im Röntgenstrahl. Der zweite Hexapod bewegt den Gesamtaufbau in den Strahl. Das genaue Abrastern der Probe mit dem Röntgenstrahl wird mit einem dazwischenliegenden, präzisen Piezo-Positionierer ermöglicht.

Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, das System so leicht zu machen, dass die empfindlichen Hexapoden sowie alle anderen verbauten Positionierer die Last aushalten, denn diese äußerst präzisen Geräte vertragen keine Überlastung. „Wir sind direkt in die Elektronik eingestiegen und haben die Steuerung einiger dieser Positionierer angepasst“, erklärt Krywka.

Nachdem 2011 bis 2013 zunächst die Proben ex situ gemessen wurden, starteten Ende 2013 die ersten Messungen mit dem Indenter im Strahl. „Wir mussten uns die Technologie neu ausdenken und auch die Probenvorbereitung bereitete uns Kopfzerbrechen. Dann musste alles mathematisch formuliert und zum Beispiel die Eigenspannung der Materialien evaluiert werden. Wir haben circa zwei Jahre gebraucht, um alle Komponenten zu berücksichtigen und die Daten korrekt auszuwerten und publizieren zu können“, berichtet Jozef Keckes.

Dr. Krywka präsentiert den Indenter auf dem Monitor

"Wir planen sozusagen das Schweizer Messer der in situ Nanoindentation." - Krywka. Foto: Hereon/ R. Otzipka

Mit Erfolg: Heute können sie mit dem Nanoindenter an der Beamline in Echtzeit messen, bei welchen Lasten oder Kräften die Beschichtungen versagen. Als erste Erkenntnisse konnten sie so zum Teil die Annahmen der Modellierer im realen Experiment bestätigen.

Die Kombination aus Röntgennanostrahl-Diffraktion und Nanoindentation wurde weltweit erstmals von Keckes und Krywka realisiert. Und schon soll es weitergehen. Christina Krywka: „Wir planen sozusagen das Schweizer Messer der in situ Nanoindentation. Wir entwickeln derzeit einen neuen Nanoindenter, der den gesamten Kraftbereich von wenigen Millinewton bis hin zu mehreren Newton abdecken kann. Damit könnten noch viel mehr Materialklassen untersucht werden.“ Außerdem soll der Kraftsensor eine digitale Schnittstelle zur Beamline-Hardware erhalten.

Damit bleibt sichergestellt, dass Christina Krywka und Jozef Keckes noch zahlreiche weitere Tage vor den Beamline-Monitoren sitzen werden. Ihre werkstoffwissenschaftlichen Fragestellungen lassen die beiden nicht los.


Autorin: Heidrun Hillen (Hereon)
Erschienen in der in2science #6 (Juni 2018)