Forschen & Leben im Natur- und Kulturraum Küste
Sie untersuchen Wasserproben und messen Wellenhöhen. Sie bestücken Satelliten und installieren Radargeräte, sie vermessen den Meeresboden und modellieren den Küstenraum. Sie befragen Küstenbewohner und beraten Verwaltung und Bevölkerung: die Küstenforscherinnen und Küstenforscher des Helmholtz-Zentrums Hereon.
Die mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Küstenforschung stammen aus den verschiedensten Fachgebieten: darunter Physik, Chemie, Biologie, Mathematik, Ozeanographie, Meteorologie oder andere Geowissenschaften. Das Wissenschaftsjahr 2016*17 – Meere und Ozeane rückt ihre Tätigkeiten verstärkt in die Öffentlichkeit.

Die MS Wissenschaft präsentierte auf dem Schiff Meeresforschung. An Bord waren auch Exponate aus dem Helmholtz-Zentrum Hereon. Foto: Ilja C. Hendel
Wissenschaftsjahre werden seit dem Jahr 2000 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit „Wissenschaft im Dialog“ (WiD) zu jährlich wechselnden Themenschwerpunkten ausgerichtet. Gewidmet sind die Wissenschaftsjahre gesellschaftlich relevanten Zukunftsthemen. Dies gilt insbesondere für die Zukunft der Meere und Ozeane sowie des Küstenraumes.
Motivation und Faszination

"Durch ihre Lage zwischen Land und Meer beeinflusst der Küstenbereich zahlreiche Prozesse." - Prof. Dr. Burkard Baschek. Foto: Helmholtz/ Blacha
Der Küstenraum. Dieser beinhaltet zum einen das vom Meer beeinflusste Land und zum anderen das vom Land beeinfl usste Meer. Zwei Zonen, die unterschiedlich genutzt werden, die faszinierend vielfältige Lebensräume bereithalten. Was ist so interessant daran, dass sich daraus ein eigenes Forschungsgebiet entwickelt hat?
Der Leiter des Bereichs „Operationelle Systeme“ am Institut für Küstenforschung, Prof. Dr. Burkard Baschek gibt darauf eine Antwort: „Unser Planet ist zu 70 Prozent mit Wasser bedeckt und das Meer bildet damit den größten Lebensraum der Erde. Weltweit lebt inzwischen nahezu jeder zweite Mensch an den Küsten beziehungsweise im Meeresrandbereich von rund 100 Kilometern. Durch ihre Lage zwischen Land und Meer beeinflusst die Küste zahlreiche Prozesse mit Auswirkungen auf den Kohlenstoffkreislauf und die Sauerstoffproduktion, den Klimawandel oder Atmosphärentransport-Prozesse. Die Gesamtlänge der weltweiten Küstenlinien aller Kontinente und der Inseln geben die Wissenschaftler mit einer Million Kilometer an. Ein sehr großer Forschungsraum, der noch einige Geheimnisse bereithält.
Das Küstenland und die Meere sind Natur- und Kulturraum

Gleich zu Beginn des Wissenschaftsjahres startete in Berlin der Zeppelin zur „Expedition Uhrwerk Ozean“. Zahleiche Medienvertreter griff en das Thema auf und berichteten über die Forschungsfahrt. Foto: Hereon/ David Ausserhofer
Durch Tourismus und Fischerei, durch die Offshore Windparkindustrie oder intensive Landwirtschaft nutzt der Mensch diesen Lebensraum. In den empfindlichen Ökosystemen etwa von Wattenmeer, Flussmündungen oder im Küstenmeer sind die Einflüsse des Menschen schnell spürbar. Es ist Gegenstand der Forschung im Hereon die komplexen natürlichen Prozesse und die Wechselwirkung mit dem Menschen zu verstehen, um die Wissensgrundlage für eine nachhaltige Nutzung zu schaffen.
Was bedeutet das für die Arbeit im Institut?

"Man muss erst einmal verstehen, dass die Küste ein „System“ ist. Es reicht nicht aus, nur eine Einzelkomponente zu berücksichtigen." - Prof. Dr. Corinna Schrum. Foto: Helmholtz/ Blacha
„Man muss erst einmal verstehen, dass die Küste ein ‘System’ ist. Es reicht nicht aus, nur eine Einzelkomponente zu berücksichtigen“, sagt die Leiterin des Bereichs „Systemanalyse und Modellierung“ im Institut für Küstenforschung, Prof. Dr. Corinna Schrum. Es handele sich vielmehr um ein andauerndes Ineinandergreifen der zahlreichen physikalischen und biogeochemischen sowie biologischen Prozesse.
Corinna Schrum: „Neben den Prozessen im Meer und in der Atmosphäre beeinfl ussen Prozesse auf der Landseite die Küsten, zum Beispiel Eintrag durch Flüsse. Außerdem wird dieser Bereich stark durch Menschen genutzt. Daher ist der menschliche Einfluss nicht von den Gegebenheiten in der Natur zu trennen.“
Um die natürlichen Prozesse und die Einflussnahme des Menschen zu verstehen, setzen die Küstenforscherinnen und Küstenforscher ausgefeilte Messnetze ein. Im Einsatz befinden sich unter anderem modernste Labortechnik, Satelliten, Forschungsschiffe oder Tauchroboter.
„Da ist zum Beispiel unser Küstenbeobachtungssystem COSYNA. Dort werden mit verschiedensten Messplattformen Eigenschaften aus der Physik oder Biogeochemie erfasst wie Temperatur, Salzgehalt, Seegang, aber auch Nährstoffe und Austauschprozesse zwischen dem Wasser und dem unterliegenden Meeresboden“, erklärt der dritte Institutsleiter im Bunde, Prof. Dr. Kay-Christian Emeis, Leiter des Bereichs Biogeochemie im Küstenmeer.
Coastal Observing System for Northern and Arctic Seas. Ein integriertes Beobachtungs- und Modellierungssystem, das den Umweltzustand der Küstengewässer von Nordsee und Arktis in Echtzeit erfasst und beschreibt. COSYNA erstellt Daten und Datenprodukte, die Behörden, der Wirtschaft und der Öffentlichkeit dabei helfen, Routineaufgaben zu planen und zu bearbeiten, auf Notfälle zu reagieren und Trends zu bewerten. Mehr über COSYNA

Forschung vor Anker: das Open Ship unseres Forschungsschiffes „Ludwig Prandtl“. Einmal im Jahr präsentieren unsere Wissenschaftler ihre Arbeit an Stationen entlang der deutschen Nordsee- oder Ostseeküste. Foto: Hereon/ Christian Schmid
Die Daten dieser Messnetze fließen in umfangreiche Computersimulationen ein. Das Ziel: ein detailliertes Modell des Gesamtsystems Küste inklusiver aller Interaktionen zwischen Meer, Land, Luft und Mensch. So werde man der langfristigen Forschungsaufgabe gerecht, das System Küste als Ganzes über die Grenzen einzelner Aspekte der Physik, Chemie oder Biologie hinweg zu begreifen. Denn, so Kay-Christian Emeis weiter: „Angesichts des fortschreitenden Klima- und Umweltwandels und des steigenden Nutzungsdrucks auf die Meere geht es darum, das Konzept Küste neu zu definieren.“ Corinna Schrum ergänzt: „Mithilfe unserer Methoden machen wir kurzfristige Vorhersagen. Damit können wir zum Beispiel prognostizieren wie sich die Strömung in den nächsten sechs oder zwölf Stunden entwickeln wird. Zusätzlich erstellen wir auch längerfristige Prognosen, zum Beispiel zur Sturmaktivität im Bereich der Küsten.“
Der Blick in die Zukunft der Küsten hilft bei Entscheidungen

"Angesichts des fortschreitenden Umweltwandels und des steigenden Nutzungsdrucks auf die Meere geht es darum, das Konzept Küste neu zu definieren." - Prof. Dr. Kay-Christian Emeis. Foto: Hereon/ Ina Frings
Dazu Kay Emeis: „Ein Beispiel für den Nutzen unserer Forschung ist der Bereich der Offshore-Windparkindustrie. Hier bieten wir Produkte an, die für die Planung wichtig sind. Wenn wir die Statistiken der letzten Dekaden anschauen – was können wir für die Zukunft daraus lernen? Welche Wetterfenster haben wir, um Windparks installieren oder warten zu können? Dazu gibt es aus der Vergangenheit Modellstatistiken wie CoastDat, die für viele Nutzer von Interesse sind. Aber auch: Was ist das langfristige Potenzial von Windparks im Zuge des Klimawandels und wie wirken sie auf das Küstenmeer?“
Gespräche führen und Faszination weitergeben
Der aktuelle Zustand von Meer und Küste sowie der Blick in die Zukunft stoßen auf ein reges Interesse in der Öffentlichkeit. Gleich zum Beginn des Wissenschaftsjahres Meere und Ozeane Ende Juni in Berlin startete die Expedition der Geesthachter Küstenforscher: Dabei ermöglichte es ein Zeppelin mit Hightechkameras an Bord, kleine Meereswirbel in der Ostsee aufzuspüren. Interessierte Zuschauer konnten oft live die Arbeit der Forscher verfolgen.

Von Schulveranstaltungen über Wissenschaftsnächte bis zum Tag der deutschen Einheit: Engagierte Küstenforscher präsentieren gerne der Öffentlichkeit ihre Arbeit. Foto: Hereon/ Torsten Fischer
Das Interesse war phänomenal: Die Forscher haben durch Internet, Zeitungen, TV und Radio mehr als rund 150 Millionen Menschen erreicht. Beliebt sind auch kleinere Aktionen wie die „Forschung vor Anker“-Tour, die jedes Jahr in anderen Häfen von Nord- und Ostsee festmacht: Beim diesjährigen Open Ship in Wismar, Heiligenhafen und Rendsburg erfuhren zahlreiche Besucher mehr über die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Bord. Auf dem Schiff standen die Crew und die Geesthachter Wissenschaftler für Gespräche bereit. Das Institut für Küstenforschung stellt sich der Öffentlichkeit bereits seit einigen Jahren mit dem Weblog „Küstenforschung“ virtuell in Wort und Bild vor.
Gezeigt werden die Forschungsarbeiten und die Wissenschaftler dahinter. Selbstverständlich endet das Engagement der Küstenforscher nicht mit dem Jahr 2017: Sie werden weiterhin für Meer und Küste da sein, den Küstenraum erforschen. So sind sich die zwei Leiter und eine Leiterin des Instituts für Küstenforschung einig:
"Die Küsten stehen vor gewaltigen Herausforderungen aufgrund der zunehmenden Bevölkerung und dem Klimawandel. Wir müssen den „Brennpunkt Küste“ sowie die Rolle der „globalen Küste“ für das Erdsystem besser verstehen, um eine nachhaltige Nutzung zu ermöglichen."
Erschienen in der in2science #3 (Januar 2017)