Wie KI der Materialforschung nutzt
Nicht nur Google und Facebook nutzen die Methoden der Künstlichen Intelligenz. Auch in der Werkstoffforschung kommen neuronale Netze und selbstlernende Programme immer öfter zum Einsatz. Am Helmholtz-Zentrum Hereon helfen sie beim Maßschneidern künftiger Hybridmaterialien und der Entwicklung neuer Implantate.

Diese Simulation zeigt Wissenschaftlern, wie gut diese Moleküle als Korrosionsschutz taugen könnten. Copyright: Robert Meißner
Man könnte die Grafik glatt für ein abstraktes Kunstwerk halten – farbige Flächen und bunte Sprenkel, die sich an manchen Stellen zu kleinen Haufen ballen. Aber: „Das ist eine Art Landkarte“, erklärt Prof. Robert Meißner vom Hereon-Institut für Werkstoffforschung. „Jeder Sprenkel steht für ein anderes Molekül und signalisiert, wie gut dieses Molekül als Korrosionsschutz taugen könnte.“ Die Grafik ist das Ergebnis eines lernfähigen Algorithmus – und steht für einen Trend in der Materialwissenschaft: Immer mehr finden hier Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) Verwendung.

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Computersimulationen spielen in der Werkstoffforschung schon seit langem eine wichtige Rolle. Will man zum Beispiel eine neue Metalllegierung entwickeln, lässt sie sich zunächst im Rechner nachbilden. Dadurch gewinnen die Fachleute erste Hinweise über die Eigenschaften der Legierung und können im Anschluss deutlich zielgerichteter experimentieren. Mit der Künstlichen Intelligenz steht der Fachwelt nun ein weiteres Werkzeug zur Verfügung: Zum einen kann sie helfen, Computersimulationen deutlich zu beschleunigen und damit effizienter zu machen. Zum anderen können neuronale Netze und Deep-Learning-Programme Zusammenhänge offenlegen, die ansonsten verborgen blieben: Wie hängen die Eigenschaften eines Werkstoffs von seiner mikroskopischen Struktur ab, zum Beispiel seinem Kristallgefüge?
Robert Meißner nutzt die neuen Techniken, um Werkstoffe quasi von der Pike auf zu simulieren: Per Rechner bildet er nach, wie sich einzelne Atome mitsamt ihren Elektronenhüllen in einem Molekül verhalten – und schließt daraus auf dessen Eigenschaften. Unter anderem widmet er sich kleinen organischen Molekülen mit einer interessanten Eigenschaft: Sie können die Korrosion des Leichtbau-Werkstoffs Magnesium hemmen. „Man könnte sie zum Beispiel in einen Schutzlack einbauen“, erläutert Meißner. „Bei einem Kratzer würden diese Moleküle dann freigesetzt und könnten korrosionsfördernde Substanzen unschädlich machen.“
Künstliche Intelligenz für Korrosionsschutz

Prof. Dr. Robert Meißner. Foto: Hereon/Christian Schmid
Nur: Welche Moleküle taugen dafür besonders gut? Im Labor wäre diese Frage nur mit großem Aufwand und unzähligen Messreihen zu klären. Deshalb haben Meißner und sein Team eine Computersimulation entwickelt, basierend auf Künstlicher Intelligenz. Zum einen speisten die Forscher die Molekularstrukturen von rund 200 Stoffen in die Software ein. Zum anderen fütterten sie sie mit Daten aus Experimenten, die das chemische Verhalten der jeweiligen Moleküle beschreiben.
Auf der Basis dieser Daten erstellte der lernfähige Algorithmus eine molekulare Landkarte mit farbigen Flächen und Sprenkeln. Auf dieser Karte finden sich ähnliche Moleküle in benachbarten Regionen. Manche sind korrosionshemmend, andere beschleunigen die Korrosion. „Im Prinzip funktioniert das Verfahren, allerdings sind die Fehler noch ziemlich groß“, sagt Meißner. Doch für die Zukunft verspricht die neue Methode einiges. Denn im Prinzip kann die KI-Software auch Moleküle in die Landkarte einsortieren, für die es noch gar keine Messdaten gibt. „Damit ließe sich abschätzen, welches Molekül besonders vielversprechend ist“, hofft Meißner. „Für die Chemiker könnte das ein wichtiger Hinweis sein, dieses Molekül doch mal genauer im Labor zu untersuchen.“

Diese Knochenschraube aus Magnesium ist biologisch abbaubar - eine zweite Operation zur Entfernung des Implantats ist hier nicht notwendig. KI hilft dabei, die verschiedenen Zusammenhänge zu verstehen. Foto: Hereon/Christian Schmid
Um Magnesium geht es auch in einem anderen Forschungsfeld, das von den Verfahren der Künstlichen Intelligenz profitiert: Am Bereich „Metallische Biomaterialien“ entwickelt das Team um Prof. Regine Willumeit-Römer Implantate aus dem Leichtmetall. Schrauben, Nägel oder Platten aus Magnesium könnten eines Tages gebrochene Knochen fixieren, damit diese wieder zusammenwachsen. Bislang verwendet man dafür Implantate aus Edelstahl oder Titan. Die aber müssen nach Verheilung des Knochens wieder entfernt werden – eine Belastung für die Patienten. Dagegen würden sich Implantate aus Magnesium von selbst im Körper auflösen, ganz ohne OP.
Schützenhilfe durch selbstlernende Software

Prof. Dr. Norbert Huber. Foto: Hereon/Christian Schmid
Noch steckt das Verfahren im Forschungsstadium. Unter anderem müssen die Fachleute herausfinden, wie schnell und unter welchen Bedingungen sich das Magnesium im Körper auflöst. Das Problem: Ein lebendiger Organismus stellt eine hochkomplexe Umgebung dar. Es wimmelt nur so von unterschiedlichsten Molekülen wie Kohlenstoffioxid (CO2), Sauerstoff, Mineralien und Proteinen – und alle könnten die Zersetzung des Magnesiums beeinflussen. Um herauszufinden, welche Rolle jedes der verschiedenen Moleküle spielt, müsste man eigentlich unzählige Messreihen aufsetzen – in der Praxis zu zeitraubend und zu teuer.
Doch dann erhielt das Team Schützenhilfe – und zwar von Prof. Norbert Huber, Leiter des Bereichs Werkstoffmechanik. Gemeinsam mit seinem Team programmierte er ein neuronales Netz und trainierte es mit sorgfältig ausgewählten Messwerten. „Zunächst stellten wir fest, dass unsere Software die Rate, mit der Magnesium im Körper korrodiert, recht genau vorhersagen kann“, erzählt Huber. Damit war die Grundlage geschaffen für eine Reihe virtueller Experimente: Systematisch entfernten die Fachleute bestimmte Parameter, etwa den Gehalt an CO2 oder an Natriumchlorid, also Kochsalz. Daraufhin lieferte die Software eine Aussage, wie sich das Fehlen eines Parameters auf die Korrosionsrate auswirkt. Ergänzend dazu „fütterten“ die Experten das neuronale Netz mit nur einem Parameter und schauten nach, was das Programm daraus machte.
Das Ergebnis war erstaunlich: „Die Berechnungen ergaben, dass der CO2-Gehalt für die Korrosion viel wichtiger ist als erwartet“, sagt Huber. „Zuvor hatte man angenommen, dass Natriumchlorid der Hauptverursacher der Korrosion ist.“ Genauere Analysen zeigten, dass es auf das Wechselspiel der beiden Parameter ankommt: Es ist die Kombination von Kochsalz und CO2, welche die Korrosionsgeschwindigkeit maßgeblich bestimmt – eine Erkenntnis, mit der sich weitere Experimente deutlich effektiver und zielgerichteter planen lassen.
Das Besondere an dem Projekt: Im Gegensatz zu vielen anderen KI-Anwendungen brauchte es keine großen Datenmengen, um die Software zu trainieren. „In diesem Fall genügten relativ wenige, aber hochwertige Daten mit wenig Streuung“, erklärt Huber. „Denn wir haben der Software einiges an Vorwissen mitgegeben. Dadurch ließ sich die Komplexität des Problems reduzieren, sodass wir mit weniger Trainingsdaten auskamen.“
Korrektur per Lernalgorithmus

Prof. Dr. Benjamin Klusemann. Foto: Brinkhoff-Mögenburg/Leuphana
Die Abteilungen „Festphase-Fügeprozesse“ und „Laser-Materialbearbeitung und Strukturbewertung“ profitieren ebenfalls von den Methoden der KI – etwa bei der Optimierung eines Verfahrens, das die Lebensdauer von Leichtbau-Komponenten erhöht: Beim „Laser Shock Peening“ feuert ein Laser kurze Lichtpulse auf ein Metall und verdampft lokal einen Teil der Oberfläche. Ausgehend von dieser verdampften Oberfläche laufen Schockwellen durchs Material und verändern dessen Eigenschaften. „Konkret können wir dadurch die Eigenspannungen im Metall modifizieren“, erläutert Prof. Benjamin Klusemann, Leiter der Abteilung „Festphase-Fügeprozesse“.
Eigenspannungen entstehen bei der Herstellung und der Verarbeitung eines Werkstücks. Wird zum Beispiel ein Blech beim Walzen gebogen, so zeigt es danach auch dann eine gewisse „Verspannung“, wenn es gar nicht belastet wird. Diese Eigenspannungen sind nicht zwangsläufig nachteilig. Unter bestimmten Bedingungen lassen sie sich nutzen, um die Entstehung und Ausbreitung feinster Risse zu mindern und damit die Haltbarkeit eines Bauteils zu erhöhen, etwa eines Flugzeugflügels. Das Laser Shock Peening kann die Eigenspannung im Material so modifizieren, dass es höhere Lasten erträgt. Im Idealfall erhöht sich die Lebensdauer eines Bauteils um bis zum Vierfachen.
Um das Verfahren zu optimieren, nutzen die Hereon-Wissenschaftler Computersimulationen. Dabei bildet der Rechner den gesamten Prozess virtuell nach – vom Einschlag des Laserpulses über die Ausbreitung der Schockwellen bis hin zu einer Vorhersage, wie sich Risse im laserbehandelten Material ausbreiten. „Diese Simulationen helfen uns, den Einfluss einzelner Prozessparameter sowie die zugrundeliegenden Mechanismen zu verstehen“, sagt Klusemann. „Unter anderem können wir dadurch das Verfahren besser an eine konkrete Anwendung anpassen.“
Um diese Simulationen möglichst realitätsgetreu zu gestalten, müssen die Fachleute sie mit Daten abgleichen, die aus Experimenten gewonnen werden: Wie groß sind die Eigenspannungen nach einer Laserbehandlung wirklich? Um das herauszufinden, setzt ein Bohrer kleine Löcher in das gelaserte Bauteil. Gleichzeitig messen die Forscher, wie sich die Oberfläche beim Nachlassen der Spannung verformt. Aus den Messdaten lässt sich dann auf Stärke und Richtung der Eigenspannungen zurückrechnen.
Das Problem: Bei dieser Rekonstruktion kommt es bei hohen Spannungen zu Fehlern. Normalerweise braucht es zeitaufwendige Computerberechnungen, um diese Fehler nachträglich auszubügeln – was Tage dauern kann. Um die Korrektur zu beschleunigen, wurde am Hereon eine lernfähige Software auf Basis eines neuronalen Netzes entwickelt. „Es kann uns in kurzer Zeit vorhersagen, welche Korrekturen notwendig sind“, sagt Klusemann. „Im Prinzip könnte man es in Echtzeit einsetzen, hätte also noch während des Bohrens das Ergebnis.“
Die Voraussetzung: Damit die KI verlässliche Ergebnisse ausspucken kann, muss sie mit den passenden Daten trainiert werden. „Wenn ich eine Künstliche Intelligenz mit schlechten Daten trainiere, erhalte ich schlechte Ergebnisse“, sagt der Forscher. „Es ist extrem wichtig, dass wir bewerten, wie belastbar die Ergebnisse sind, die wir mithilfe Künstlicher Intelligenz erzielen.“
KI als Rechenbeschleuniger

Prof. Dr. Christian Cyron. Foto: TU München
Auch in der Abteilung „Simulation von Werkstoff- und Strukturverhalten“ setzt man auf die Methoden der Künstlichen Intelligenz. Prof. Christian Cyron und seine Leute untersuchen dort unter anderem, wie sogenannte Hybridmaterialien optimiert werden können. Wenn etwa in ein weiches, gummiartiges Material kleine harte Partikel eingebettet sind, die die Steifigkeit des Werkstoffs erhöhen – wie hängt dann die Steifigkeit von der Form und der Größe der eingebetteten Partikel ab? „Um das per Rechner zu simulieren, müsste man eigentlich alle möglichen Partikelformen durchrechnen“, sagt Cyron. „Doch das dauert viel zu lange“.
Deshalb verfolgen die Fachleute eine andere Strategie: Sie lassen ihre Simulationen nur für eine beschränkte Zahl von Partikelgrößen und -formen laufen. Mit den Ergebnissen dieser Berechnungen füttern sie dann einen Deep-Learning-Algorithmus. Der kann die vorliegenden Daten extrapolieren und vermag abzuschätzen, zu welcher Steifigkeit andere Partikelarten führen würden, die nicht in den Trainingsdaten enthalten waren. „Das ist zwar nicht so genau wie eine exakte Simulation“, sagt Cyron. „Aber für unsere Zwecke können wir mit einer Ungenauigkeit von einigen Prozent leben.“ Schließlich dienen diese Methoden vor allem einer Vorauswahl: Welche Partikelarten sind für die weitere Erforschung interessant, welche kann man außer Acht lassen?

Nanoporöses Gold ist ein spannendes Material, beispielsweise für Anwendungen in der Sensorik. Foto: Haijun Jun
Entwickelt haben die Fachleute ihren Lernalgorithmus mithilfe von Modellmaterialien. Jetzt wollen sie ihn auf eine reale, vielversprechende Materialklasse anwenden: nanoporöse, also schwammartige Metalle, die ultraleicht sind und sich zugleich durch eine hohe innere Oberfläche auszeichnen, was sie interessant für Anwendungen etwa im Bereich der Katalyse oder auch Sensorik macht. Der Plan: Zunächst wollen die Forscher konventionelle Computersimulationen ausführen, die sie mit Daten von hochauflösenden Mikroskopen füttern sowie von Experimenten, die die Werkstoffeigenschaften messen. Mit den Ergebnissen wollen sie anschließend die Künstliche Intelligenz trainieren. „Dadurch wollen wir die Eigenschaften nanoporöser Metalle schneller voraussagen als es mit klassischen Simulationen möglich ist,“ hofft Cyron. „Mit dem maschinellen Lernen können wir Computersimulationen deutlich beschleunigen und deren Ergebnisse schneller verarbeiten.“
Letztlich könnte die KI dadurch Hinweise geben, wie man einen Werkstoff maßschneidern kann – quasi ein maschinenintelligentes Materialdesign. „Wir sind noch im Aufbruch, und es kann auch niemand sagen, wohin die Reise gehen wird und wie nützlich diese neuen Verfahren am Ende sind“, meint Cyron. „Künstliche Intelligenz ist zwar kein Allheilmittel, aber sie dürfte ein wichtiges Werkzeug sein, das bei der Lösung wesentlicher Probleme der Materialforschung helfen kann.“
Autor: Frank Grotelüschen
Erschienen in der in2science #8 (Juni 2019)