Zehn Liter Schnee und 24 Stunden Luft: Forschung in der Arktis
Juli 2018. Die See ist ruhig. Alle gehen ihren Aufgaben an Bord nach. Wir sind in einem Labor, auf einem Forschungsschiff. Auf einmal ertönen laute Rufe, viele laufen an Deck. Endlich: Nach mehr als zwei Wochen Fahrt ist die POLARSTERN umgeben von Eis. Dann wird alles ganz ruhig, nur das Auseinanderbrechen des Eises ist zu hören, als wir uns langsam hindurchbewegen. Für alle ist es ein beeindruckender Moment.
Ein Expeditionsbericht von Hanna Joerss und Zhiyong Xie, aufgeschrieben von Gesa Seidel (Hereon).

Dr. Zhiyong Xie (links) und Hanna Joerss (rechts) in der Arktis. Foto: Alberto Garcia
10. Juli, endlich war der Tag gekommen. In Bremerhaven startete die Expedition PS114 mit dem deutschen Forschungsschiff POLARSTERN. Wir standen an Deck des Schiffs und sahen die Menschen an Land kleiner werden. Nach der langen Vorbereitung auf diese Fahrt und den vielen bürokratischen Dingen, die zu regeln waren, kommt es einem fast unwirklich vor, aber dann realisiert man: Es geht los.
Die POLARSTERN gehört zum Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, kurz AWI. Zu Beginn mussten wir ganz schön Strecke machen. Wir haben Norwegen vorbeiziehen lassen und sind zunächst Richtung Spitzbergen gefahren. Das Forschungsgebiet, das wir erreichen wollten, war die Framstraße zwischen Spitzbergen und Grönland.
Woran wir forschen

Quelle: AWI
Ziel unserer Fahrt war, Vorkommen, Verbreitung und Verbleib von neuartigen organischen Schadstoffen entlang potentieller Transportwege vom europäischen Kontinent aus bis in die Arktis zu untersuchen. Dafür sammelten wir Wasser-, Luft- und Schnee-Proben. Langlebige und langsam abbaubare chemische Verbindungen werden als Persistente Organische Schadstoffe, auch POPs (Persistent Organic Pollutants), bezeichnet. In der von 182 Staaten anerkannten Stockholm-Konvention, die 2004 in Kraft trat, wird der Umgang mit diesen umweltschädlichen Stoffen geregelt. Die Herstellung und der Gebrauch einiger Stoffe wird darin beschränkt, andere sind grundsätzlich verboten. Zu den „klassischen“ Schadstoffen, die hier geregelt sind, kommen immer wieder neuartige Problemstoffe hinzu. Das können zum Beispiel Substanzen sein, die von der Industrie als Ersatz für verbotene Stoffe neu in Verkehr gebracht werden, oder solche, die durch neue analytische Verfahren und gezieltere Suche erst deutlich nach ihrem Eintrag in die Umwelt sicher bestimmt werden können.
Damit Substanzen in die Stockholm-Konvention aufgenommen werden, müssen sie folgende Kriterien erfüllen: Sie müssen persistent, bioakkumulativ und giftig sein und über weite Strecken transportiert werden. Unsere Ergebnisse zum Vorkommen neuartiger Problemstoffe in entlegenen Regionen wie der Arktis können mit in die Bewertung einfließen, ob sie in die Stockholm-Konvention aufgenommen werden oder in anderer Form gesetzlich reguliert werden.
Wir stellen uns auch die Frage, wie sich der Klimawandel auf die Schadstoffbelastung auswirkt. Durch das Schmelzen des Eises in den Polarregionen können hier Schadstoffe freigesetzt werden, die vorher im Eis eingelagert waren. Doch welche Wege sie nehmen, ist bislang noch unklar. Deshalb haben wir Wasser-, Luft- und Schnee-Proben genommen.

Foto: Hereon/Hanna Joerss
Hanna Joerss: „Das war ziemlich aufregend. Für mich war es die erste große Expedition, bisher war ich immer mit dem Hereon-Schiff LUDWIG PRANDTL unterwegs. Die große POLARSTERN hingegen kam mir wie ein schwimmendes Dorf vor. Ich war froh, dass Zhiyong dabei war, der das Schiff schon kannte und mir viel zeigen und erklären konnte.“
Zhiyong Xie: „Auch wenn ich schon viele Expeditionen erlebt habe: Es ist jedes Mal wahnsinnig spannend. Gleichzeitig war es schön, auf einem vertrauten Schiff neue Erkenntnisse über die Arktis zu erhalten. Ich freue mich auf sehr, dass ich meine Erfahrung auch mit anderen Wissenschaftlern aus der ganzen Welt austauschen kann.“
Wasserproben

Im Labor werden die Proben aufbereitet. Foto: Hereon/Hanna Joerss
Für uns waren zwei Arten von Wasserproben wichtig: Zum einen das Oberflächenwasser, das ist ziemlich einfach: Die POLARSTERN hat eine Pumpe unter dem Kiel, die das Wasser direkt in unser Labor pumpen kann. Die Leitungen sind aus rostbeständigem Stahl, so werden Kontaminationen vermieden. Wasser aus verschiedenen Meerestiefen können wir mit einem Kranzwasserschöpfer an Bord holen. Die zunächst offenen Probengefäße schließen in unterschiedlichen Tiefen und sammeln dort Wasser. Wir haben an sechs Stationen auf der Fahrt jeweils Wasser aus zehn verschiedenen Tiefen genommen. Vom Meeresboden, also zum Teil mehr als 3.000 Metern, bis hin zum Oberflächenwasser.
Wie wir Proben aus der Luft nehmen

Luftprobennahme auf dem Peildeck. Foto: Alfred-Wegener-Institut/Axel Behrendt
Für flüchtige Chemikalien spielt der Transport über die Luft eine große Rolle. Deshalb ist für uns auch die Luftprobenahme sehr wichtig. Wir haben zwei Geräte mit an Bord gebracht und oben auf dem Peildeck installiert. Dort laufen sie durchgehend, sie nehmen also auf der gesamten Fahrt Proben. In den Geräten befindet sich ein Adsorptionsmaterial, an dem sich die Schadstoffe anreichern. 24 Stunden lang strömt hier die Luft hindurch, dann wechselt Zhiyong die Probe. Die Proben werden anschließend bei -20 Grad Celsius gelagert, denn vollständig untersuchen können wir sie erst in Geesthacht.
Hanna Joerss: „Als wir das erste Mal von Eis umgeben waren, war das ein überwältigender Moment. Wenn die POLARSTERN das Eis bricht und es laut anfängt zu knacken, hört und spürt man die Kraft dieses Schiffes.“
Endlich – Schneeprobenahme

Der Mummy-Chair im Einsatz. Foto: Hereon/Hanna Joerss
Packeis. Überall. Es ist unglaublich, wie viele verschiedene Farben das Eis haben kann. An vielen Tagen war es sehr nebelig, da konnte man kaum etwas sehen. An einigen wenigen strahlte die Sonne dafür umso mehr vom blauen Himmel. Gerade zur Schneeprobenahme von Zhiyong ist die Aussicht entscheidend. Trotz des nebligen Wetters über einen langen Zeitraum konnten wir an vier Stationen Schnee beproben.
Das Prinzip ist immer gleich: Wir müssen einen stählernen Eimer mit zehn Litern Schnee füllen.
Die Frage ist immer nur: Wie kommen wir vom Schiff zum Schnee?

Foto: Hereon/Hanna Joerss
An einem Tag sind wir einfach mit einem kleinen Boot an eine Stelle gefahren, an der wir gut auf das Eis und somit an den Schnee kamen. Zwei Mal sind wir auch mit dem sogenannten Mummy-Chair dorthin gelangt. Der Mummy-Chair ist nichts anderes als eine Box, in der Menschen transportiert werden. Diese wird mit einem Kran über Bord gehoben und sicher am Boden abgesetzt. Einer von beiden muss dann gesichert an Seilen raus und die Schneeprobe etwa zehn Meter entfernt von der Stelle entnehmen, denn wir wollen Verunreinigungen der Probe vermeiden. Die andere Person bleibt in der Box und behält die Umgebung im Blick.

Helikopterflüge sind nur bei bester Sicht möglich. Foto: Hereon/Zhiyong Xie
Der 28. Juli war ein ganz besonderer Tag. Wir waren an der grönländischen Küste und nach Wochen im Nebel kämpfte sich die Sonne durch – wir konnten einen Helikopterflug starten!
Für uns bedeutete das: eine ausführliche Sicherheitsunterweisung, Überlebensanzüge und Sauerstoff-Weste anziehen, Helme aufsetzen und los. An Bord gibt es zwei Helikopter, für den Notfall ist also immer ein zweiter bereit. An unserer Station auf dem Meereis angekommen, hatten wir zehn Minuten Zeit, unsere Eimer mit Schnee zu befüllen. Der Motor des Helis lief, wir mussten etwa 100 Meter laufen, um Kontaminationen zu vermeiden. Dann ging es auch schon zurück.
Wieder an Bord konnten wir die Sicht auf die beeindruckenden Gletscher der grönländischen Steilküste genießen – und sogar einen Eisbären, ein Walross und einen Wal beobachten. Es ist wunderschön zu sehen, wie hier alles im Einklang zu sein scheint.
Laborarbeit auf einem Schiff

Im Labor werden die Proben aufbereitet. Foto: Hereon/Zhiyong Xie
Auf der POLARSTERN gibt es verschiedene Labore, zum Beispiel Nass-, Trocken- und Chemielabore. Diese Räume sehen jedoch nicht so aus wie die Labore, die wir aus unseren Forschungseinrichtungen kennen: Sie sind komplett leer, denn die Labore können je nach Forschungsbedürfnis ausgerüstet werden. Das heißt, dass sich jede Gruppe vorher genau überlegt, welche Geräte und andere Hilfsmittel sie auf der Expedition benötigt. Dazu gehören natürlich die Probegefäße, Pipetten und ähnliche Geräte, aber auch Verbrauchsmaterialien wie Handschuhe, Papiertücher und so weiter. Insgesamt 29 Boxen haben wir am Hereon gepackt und auf die POLARSTERN verladen. Im Labor wird dann ausgepackt, was gerade benötigt wird und vor allem gut befestigt. Wir hatten zum Glück die ganze Zeit eine relativ ruhige See, sodass wir gut arbeiten konnten.

Foto: Hereon/Hanna Joerss
07:30 Frühstück
07:50 Wetterbesprechung
Probennahmen/Laborarbeit
12:00 Mittagessen
Probennahmen/Laborarbeit
15:30 Kaffeepause
Probennahmen/Laborarbeit
17:30 Abendessen
Science Meeting
Probennahmen/Laborarbeit
Ihr seht: Langeweile kommt auf dem Schiff nie auf – die Tage sind hier komplett durchstrukturiert. Gearbeitet wird rund um die Uhr. Wenn wir an einer bestimmten Messstation angekommen sind, müssen wir raus und Proben nehmen, auch wenn das nachts um 2 Uhr ist. Wir haben rund um die Uhr Proben genommen oder diese im Labor für spätere Untersuchungen vorbereitet. Es ist ungewohnt für uns, dass es Tag und Nacht hell ist, da denkt man gar nicht so viel an Schlaf. Um den Tagen mehr Struktur zu geben, gibt es auch viele Veranstaltungen: Jeden Abend treffen wir uns zum „Science Meeting“. Dabei berichtet der Fahrtleiter der Expedition vom Tag, wir sprechen über die Wettervorhersage für den kommenden Tag und jeden Abend erzählt eine andere Gruppe von ihrem Projekt. Das ist echt spannend: Wir sind 47 Wissenschaftler an Bord und forschen in sehr verschiedenen Bereichen. Man nimmt hier aber nicht nur wissenschaftlich viel Input mit, denn wir kommen alle aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Es ist toll, welche Menschen wir hier kennenlernen durften: Einen spiegelschriftschreibenden Ozeanographen aus Mexiko, einen sportbegeisterten Helikoptertechniker aus Spanien und einen Wettertechniker aus der ehemaligen DDR, der davon berichtet hat, wie er die Wende in der Antarktis erlebt hat – um nur ein paar zu nennen.
Heimreise
Am 3. August war es dann so weit – unser Abenteuer endete in Tromsø, Norwegen. Alle unsere Proben haben wir gut verpackt – die Schnee- und Luftproben sogar bei -20 Grad Celsius. Sie blieben auf der POLARSTERN, bis das Schiff Mitte Oktober wieder nach Bremerhaven zurückkehrte. Dann konnten wir unsere 29 Boxen wieder auspacken und mit den Untersuchungen und Analysen beginnen.
Nach der knapp vierwöchigen Fahrt müssen nun die Proben und Daten ausgewertet werten. Das bedeutet monatelange Laborarbeit, Analysen und Berechnungen. Welche Ergebnisse Zhiyong Xie und Hanna Joerss erzielt haben und ob sie die Schadstoffe in der Arktis nachweisen konnten, berichten wir in der nächsten Ausgabe der in2science.
Ein Expeditionsbericht von Hanna Joerss und Zhiyong Xie, aufgeschrieben von Gesa Seidel (Hereon).
Erschienen in der in2science #7 (Dezember 2018)