Die Geschichtenerzählerin: Erica Thea Lilleodden
„Forschung bedeutet für mich Kreativität“

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Prof. Dr. Erica Thea Lilleodden, Abteilungsleiterin „Experimentelle Werkstoffmechanik“, Institut für Werkstoffforschung
In ihrem Büro stapeln sich Fachmagazine, der Schreibtisch ist übersäht von Zetteln, Kinderfotos zieren die Fensterbank, das Whiteboard ist voller Formeln, an der Wand hängen selbstgemalte Bilder und auf dem Regal stehen Modelle chemischer Strukturen. Dr. Erica Lilleodden sieht sich um. „Das nennt man wohl Multitasking“, erkärt sie lachend. Die 46-Jährige ist Abteilungsleiterin der „Experimentellen Werkstoffmechanik“.
„So funktioniert auch mein Gehirn: Ich denke über viele Dinge gleichzeitig nach, oft haben diese erstmal gar nichts miteinander zu tun, aber irgendwann kann ich sie verknüpfen – zum Beispiel durch Gespräche mit anderen.“ Administratives gibt sie gerne auch mal ab. So kann sie sich mehr auf die Wissenschaft konzentrieren – für sie eine Frage der Kreativität.
„Für mich geht es darum, die Geschichte in der Forschung zu finden. Am Anfang steht immer eine Frage, aus der sich etwas entwickelt. Wir probieren verschiedene Wege aus, oft ist es schwierig, es gibt Rückschläge – aber am Schluss haben wir im besten Fall eine Lösung gefunden. Meist tauchen am Ende jedoch neue Fragen auf, die uns weiterforschen lassen, dann beginnen wir ein neues Kapitel.“
Aufgewachsen ist die Forscherin in Saint Paul im Bundesstaat Minnesota, USA. Ihre Promotion in den Materialwissenschaften erlangte sie an der Universität Stanford. „Das Besondere am Promovieren in den USA ist, dass PhD-Kandidaten dort noch Vorlesungen haben und Theorie und Praxis besser verknüpfen können. Gerade in dieser Phase sollten sich junge Wissenschaftler ausprobieren können und kreativ sein.“ Das versucht sie hier mit ihren Doktoranden umzusetzen: „Wir diskutieren viel, ich gebe nicht einfach vor, was in einer Dissertation passieren soll. Die Doktoranden sollen ihren eigenen Weg finden – natürlich im Austausch mit mir und Kollegen. Dadurch lernen wir alle dazu.“
Ihr Weg nach Deutschland führte 2004 zunächst nach Karlsruhe. Am dortigen Forschungszentrum war sie als Humboldt-Forschungsstipendiatin tätig. Als die Wissenschaftlerin gerade mit dem Gedanken spielte, wieder zurück nach Amerika zu gehen, lernte sie ihren heutigen Ehemann kennen. „Er war der Auslöser dafür, dass ich hiergeblieben bin.“ In Karlsruhe traf sie auch Prof. Norbert Huber, heute Institutsleiter der Werkstoffmechanik, der gerade plante, nach Geesthacht zu gehen und ein Labor für die Mikromechanik aufzubauen. Erica Lilleodden war begeistert von der Aussicht auf ihr eigenes Labor und eine feste Stelle. 2006 begann sie ihre Arbeit am Hereon und zog mit ihrem Mann, der ursprünglich aus Norddeutschland kommt, nach Hamburg. „Mein Mann freute sich, dass er wieder näher am HSV-Stadion wohnte“, schmunzelt Erica Lilleodden. Heute wohnen sie mit ihren Kindern in einem sogenannten Hamburger Kaffeemühlenhaus.
Erica Lilleoddens wissenschaftliche Geschichte dreht sich um Mikromechanik, um Nanostrukturen. Wie verhalten sich mechanisch beanspruchte Bauteile für zum Beispiel Flugzeuge auf der Mikroebene? Um das herauszufinden, schneidet sie Proben in einer Größe von 100 Nanometern aus. Das ist etwa ein Tausendstel eines menschlichen Haares. Diese winzigen Proben untersucht sie im Labor mit verschiedensten Geräten. „Mich interessiert: Wie ist das Material aufgebaut? Wie sieht die atomare Ebene aus? Wer große Teile untersucht, muss Annahmen darüber treffen, warum ein bestimmtes Verhalten auftritt. Ich schaue gleich auf die Mikroskala und kann dadurch verstehen, wie die atomare Ebene das große Ganze beeinflusst.“
Für ihre herausragende Grundlagenforschung erhält sie im November 2019 den begehrten Preis der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde.
„Ich freue mich wahnsinnig! Der Preis ist eine Auszeichnung für unsere gemeinsame Arbeit hier in der Gruppe und die Einflüsse von vielen Kollegen weltweit.“
Sie spricht Deutsch mit amerikanischem Akzent. Wenn sie begeistert ist, leuchten ihre Augen und sie rutscht sie schnell in ihre Muttersprache ab.
Neben der eigenen Forschung, der Betreuung von Nachwuchswissenschaftlern und der Abteilungsleitung ist sie Reviewerin bei zahlreichen wissenschaftlichen Journals. „Wissenschaftliche Paper vor der Veröffentlichung zu lesen, um die Qualität der Arbeit sicherzustellen, ist enorm wichtig.“ Auch Konferenzen organisieren, die Lehre an den Universitäten sowie Mitgliedschaften in diversen Gremien kommen dazu. „Das ist unsere Verantwortung als Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft, auch wenn das oft zeitaufwendig ist. So bekommt man aber viele Einblicke und neue Perspektiven mit auf den Weg – davon profitieren alle.“
Familie Lilleodden reist gerne, selten zwei Mal an einen Ort. 2020 wird es richtig spannend: Von Januar bis Juni zieht die Familie nach Saint Paul, zurück in Erica Lilleoddens Heimat. Dort wird sie als Gastdozentin an der Uni arbeiten, die Kinder können mal eine längere Zeit mit dem amerikanischen Teil der Familie verbringen. Die 10-jährige Tochter und der 8-jährige Sohn wachsen zweisprachig auf. „Wir freuen uns sehr und sind neugierig, wie das Leben dort für uns sein wird.“ Im Juli kommen sie zurück und schreiben ihre Geschichte in Hamburg weiter.
Autorin: Gesa Seidel (Hereon)
Erschienen in der in2science #8 (Juni 2019)