Neue Ideen für das Hereon
Interview mit der Hereon-Geschäftsführung
2019 war am Helmholtz-Zentrum Hereon ein Jahr der Veränderungen: Mit Silke Simon und Matthias Rehahn hat das Hereon eine komplett neue Geschäftsführung bekommen. Im Interview erzählen die beiden, was sie an ihrem neuen Job reizt, welche Schwerpunkte sie setzen wollen und welche Aufgaben in Zukunft zu meistern sind.

Silke Simon, Kaufmännische Geschäftsführerin, und Prof. Matthias Rehahn, Wissenschaftlicher Geschäftsführer. Foto: Hereon/ Christian Schmid
Sie sind beide noch relativ neu im Amt. Was hat Sie bewogen, am Helmholtz-Zentrum Hereon anzuheuern?
Rehahn: In meinen Funktionen im Technisch-Wissenschaftlichen Beirat sowie im Aufsichtsrat habe ich das Hereon mit seinen faszinierend vielfältigen wissenschaftlichen Inhalten und Zielen über viele Jahre hinweg intensiv kennengelernt. Dabei habe ich auch gesehen, an welchen Stellen ich selbst Schwerpunkte etwas anders setzen würde. Als dann die Frage kam, ob ich mich auf den Posten des Wissenschaftlichen Geschäftsführers bewerben wolle, dachte ich mir: Wenn man schon neue Ideen und viele Vorschläge hat, sollte man auch bereit sein, selbst in die Verantwortung gehen, um sie zu realisieren. Einige dieser Ideen sind relativ einfach umzusetzen. Andere gehen mit strukturellen Veränderungen einher, die letztlich inhaltliche Verschiebungen nach sich ziehen dürften.
Simon: Ich bin seit 18 Jahren in der Helmholtz-Gemeinschaft, das Hereon ist das nunmehr vierte Zentrum, in dem ich arbeite. Ausgehend von einer fachlichen Ingenieurtätigkeit tendierte ich im Laufe der Zeit immer mehr in Richtung Management. Und da ist die Kaufmännische Geschäftsführung im Hereon jetzt der logische Schluss – in einem Zentrum, das ich schon lange und gut kenne. Wir sind beide also neu im Amt, aber doch vertraut. Es ist toll, von der Hereon-Belegschaft sehr warmherzig und freundlich aufgenommen worden zu sein.

Rehahn: "Wir müssen die Gesellschafter noch viel stärker einbinden in das, was wir als Forscher tun" Foto: Hereon/ Steffen Niemann
Ihr Amtsantritt ging einher mit dem Start der strategischen Begutachtung im Rahmen des zweistufigen Begutachtungsprozesses der Helmholtz-Gemeinschaft durch internationale Fachleute. Wie lauten die wesentlichen Ergebnisse dieses Prozesses?
Rehahn: Im Bereich der Werkstoff forschung sind wir traditionell sehr gut aufgestellt. Bei der Entwicklung von Magnesium- oder Titan-Aluminium-Legierungen stehen wir an der Weltspitze. Ebenfalls sehr gut hat die Biomaterialforschung an den Standorten Teltow und Geesthacht abgeschnitten. Sollte es hier gelingen, in den nächsten Jahren ausgewählte Neuerungen in die klinische Praxis zu überführen, wäre das weltweit einzigartig. Auch die Polymerforschung, bei der es unter anderem um hochselektive Membranen für leistungsfähige Trennprozesse geht, wird als äußerst positiv wahrgenommen. Hier gibt es viele aussichtsreiche Anwendungsfelder höchster Relevanz, etwa die Abtrennung von CO2 (Kohlenstoff dioxid) und H2 (Wasserstoff) aus Gasgemischen oder die Gewinnung wertvoller Ressourcen aus dem Meerwasser. Weiterhin wird das Thema Wasserstoff künftig eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, und zwar ganzheitlich, von der Erzeugung über die Speicherung bis hin zur Nutzung. Dabei werden wir eng mit einem neuen Institut des DLR kooperieren, das auf dem Gelände in Geesthacht entstehen soll. Hier wie in den anderen Feldern kommt uns die Spitzenstellung seitens der Strukturforschung mit Photonen und Neutronen sehr entgegen. Zusätzlich steht das Hereon in der Küstenforschung hervorragend da. Eine nochmalige Stärkung könnte gelingen, wenn das Profi l weiter geschärft, Synergien noch stärker genutzt und Alleinstellungsmerkmale noch deutlicher herausgearbeitet würden. Ergänzend ist vorgesehen, die Küstenforschung enger mit dem Climate Service Center (GERICS) zu verzahnen. Aus dieser Kombination würde eine weltweite Alleinstellung resultieren.
Welche Schwächen hat die Begutachtung zutage gefördert, welche Herausforderungen gilt es zu meistern?
Rehahn: Ein ganz wichtiger Punkt: Wir müssen die Gesellschaft noch viel stärker einbinden in das, was wir als Forscher tun. Das heißt nicht nur, dass wir uns stärker bemühen sollten, unsere Forschung verständlich darzustellen. Das bedeutet vielmehr, dass wir beispielsweise die Bürgerinnen und Bürger dazu einladen, mit uns zu diskutieren und ihre eigenen Ideen und Gedanken einzubringen, damit wir lernen: Wo liegen die Prioritäten von Gesellschaft und Politik? Was erwarten die Menschen von der Wissenschaft, etwa von der regenerativen Medizin? Und wo bestehen Bedenken und Befürchtungen, etwa beim Thema Klimawandel? Mit dem GERICS haben wir einen Pionier, der seit mehr als zehn Jahren eine konsequente Klima-Kommunikation betreibt und den Dialog mit der Gesellschaft gestaltet. Davon könnte beispielsweise die Materialforschung viel lernen. Aber auch auf der politischen Bühne müssen wir sichtbarer werden, auf Landes- wie auf Bundesebene. Da sind wir bislang nur mittelgut aufgestellt.

Foto: Hereon/ Steffen Niemann
Ein zentrales Stichwort in der gesellschaftlichen Debatte ist die Digitalisierung: Wie gut ist das Hereon gewappnet?
Simon: Derzeit sind manche Prozesse in der kaufmännischen Administration noch nicht optimiert, sie enthalten zu viele Schleifen und Wiederholungen. Deshalb haben wir nun ein Projekt aufgesetzt, das die Abläufe neu strukturiert und schlanker macht. Dabei bemühen wir uns darum, unsere Belegschaft mitzunehmen: Alle haben die Möglichkeit, das Projekt mitzugestalten und sich einzubringen. Und ich erkenne eine große Bereitschaft, an dieser Umstellung mitzuwirken.
Rehahn: Für die Wissenschaft hat die Digitalisierung fundamentale Folgen. Sie wird letztlich ein sogenannter Game-Changer sein. Denn um Materialien und Werkstoffe grundlegend zu verstehen, vom molekularen Aufbau bis hin zu ihrem Verhalten in der Praxis, müssen wir das, was wir über viele Jahre in aufwändigen Einzel- und Reihenexperimenten gemacht haben, auf der digitalen Schiene nachzeichnen. Wir müssen das Zeitalter hinter uns lassen, in dem jemanden für eine ausschließlich experimentelle Doktorarbeit ins Labor geht und sagt: Schauen wir mal, was da herauskommt. Stattdessen müssen wir Experimente und Modellierungen aufs Engste miteinander verschränken, um innovative Materialien um Größenordnungen gezielter und effizienter zu entwickeln und gleichzeitig noch zuverlässige Vorhersagen über ihre Lebensdauer oder Recyclingfähigkeit zu treffen. Doch aussagekräftige Modellierungen benötigen extrem viele hochwertige Messdaten. Diese Datenfülle müssen wir erst noch erzeugen und lernen, intelligent mit ihr umzugehen. Dazu brauchen wir beispielsweise Künstliche Intelligenz. In diesem Feld erfolgreich zu sein wird darüber mitentscheiden, ob unsere Gesellschaft auch in Zukunft der Welt wettbewerbsfähige Produkte anbieten kann.
Spielt die Digitalisierung auch in der Küstenforschung eine immer prominentere Rolle?
Rehahn: Natürlich – aber die Küstenforschung ist schon deutlich weiter. Bei ihr kommen Computermodelle schon lange zum Einsatz. Schließlich wollen die Menschen zuverlässige Prognosen, welche Auswirkungen beispielsweise der Klimawandel haben wird oder wie stark man die Deiche an der Küste erhöhen muss. Das lässt sich nur mit Computermodellen beantworten, und daher arbeitet die Küsten- und Klimaforschung schon lange sehr stark rechnergestützt. Davon sollte sich die Materialwissenschaft befruchten lassen.

Simon: "Mit seinen Forschungsschwerpunkten leistet das Hereon einen wichtigen Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit" Foto: Hereon/ Steffen Niemann
Um diese Herausforderungen zu meistern, braucht es neue Fachkräfte. Daran aber mangelt es in Deutschland bekanntlich. Bekommt das auch das Hereon zu spüren?
Simon: Konkret ist das zwar noch kein wirkliches Problem, das Hereon ist nach wie vor ein attraktiver Arbeitgeber. Dennoch macht sich der Fachkräftemangel allmählich auch bei uns bemerkbar. So ist es in manchen Bereichen kaum noch sinnvoll, eine Stelle befristet auszuschreiben. Und da sich der Fachkräftemangel künftig zuspitzen dürfte, sind wir dabei, unsere Personalabteilung umzustrukturieren und die Themen Aus- und Weiterbildung sowie Karriereförderung auszubauen. Gerade was die soziale Komponente angeht, haben wir bereits einiges getan, bieten zum Beispiel flexiblere Arbeitsmodelle an. Aber natürlich wollen wir das stetig verbessern und immer mehr Angebote zu schaffen, etwa zur Schulung und Entwicklung von Führungskräften.
Rehahn: Eine besondere Herausforderung wird darin bestehen, kreative Fachkräfte zu gewinnen, die sich fundiert mit den modernsten Methoden der Modellierung und der Künstlichen Intelligenz auskennen. Solche Fachkräfte sind derzeit unglaublich gefragt. Wir wollen sie für uns interessieren, indem wir ihnen ein besonderes Umfeld anbieten: Eine Umgebung, in der sie die Aussagen ihrer Computermodelle unmittelbar mit den Resultaten von realen Experimenten abgleichen und damit ihre Modelle gezielt und schnell weiterentwickeln können. Diese synergistische Wechselwirkung von Theorie und Praxis ist unsere besondere Stärke.

Foto: Hereon/ Steffen Niemann
In Deutschland wird allgemein beklagt, es gebe zu wenig Start-ups und Ausgründungen. Ist das auch für das Hereon ein Thema?
Rehahn: Ich denke, unser Zentrum hat da einen großen Nachholbedarf. Wenn man sich umschaut, gibt es im Hereon einen enormen Fundus an großartigen und auch praxisrelevanten Ideen. Diese sollten in den nächsten Jahren eigentlich einen konstanten Fluss an Unternehmensgründungen schaffen. Dazu müssen wir jedoch bei unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein größeres Bewusstsein schaffen, dass eine Unternehmensgründung ein interessanter Weg sein kann. Und auch auf der administrativen Seite braucht es dafür deutliche Weiterentwicklungen.
Simon: Wir beraten mögliche Start-ups sowohl in juristischen als auch in steuerrechtlichen Fragen und informieren sie über mögliche Förderungen. Leider werden wir dabei manchmal zu spät eingebunden, was die Zusammenarbeit ein wenig erschwert. Um die Situation zu optimieren, sind wir dabei, in den einzelnen Instituten Technologietransfer-Beauftragte zu etablieren. Sie werden sich regelmäßig treffen, etwa um interessante Ideen für Ausgründungen und Unterstützungsbedarf zu identifizieren.
Kurz zusammengefasst: Wo liegen die größten Herausforderungen für das Hereon, wo wird es Veränderungen geben?
Simon: Zunehmend müssen sich auch Wissenschaftseinrichtungen fragen, wie sich ihr Ressourcenverbrauch rechtfertigen lässt und wie man ihn verringern kann. Mit seinen Forschungsschwerpunkten leistet das Hereon einen wichtigen Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit – es ist mir persönlich ein zentrales Anliegen, dass der Wissenschaftsbetrieb selbst auch nachhaltig ist, denn Nachhaltigkeit ist eine Qualitätsdimension. Sie wird künftig bei Förderentscheidungen für die Wissenschaft immer mehr Gewicht bekommen. Darauf wollen wir uns vorbereiten.
Rehahn: Derzeit stecken Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft in einem fundamentalen Wandlungsprozess. In manchen Regionen dieser Welt ist dieser Prozess deutlich weiter vorangeschritten als in Deutschland. Genau das ist die große Herausforderung auch für das Hereon. Wir müssen die Art und Weise, wie wir arbeiten, komplett neu aufsetzen. Meine Prognose ist, dass die Arbeitsweise in unserem Zentrum in zehn Jahren mit der von heute nicht mehr viel gemeinsam haben wird. Auch werden wir bestimmte Forschungsrichtungen aufgeben müssen und dafür neue initiieren. Dazu müssen wir die Menschen hier weiterbilden, damit sie auch in einem neuen System mit neuen Fragestellungen ihren herausragenden Beitrag werden leisten können. Das alles sollten wir als eine große Herausforderung im positiven Sinne sehen.
Das Interview führte Frank Grotelüschen.
Erschienen in der in2science #9 (März 2020)